Leon de Winter in Welt 4.11.2025
Israel fordert unter großen Opfern die sterblichen Überreste von Menschen ein. Diese sollen mit Würde bestattet werden. Die Heiligkeit des Lebens zeigt sich auch in der Heiligkeit des Verstorbenen. Eines der schlimmsten Bilder, die ich kenne, ist das Bild der Mutter Shiri, die verzweifelt versucht, ihre zwei Kinder zu schützen. In ihren Augen lese ich alle Angst, Einsamkeit, Ohnmacht, die Juden seit Tausenden von Jahren erlitten haben – aber, ich gebe es zu, diese Worte reichen nicht aus, um das zu sagen, was ich ausdrücken will. Es gelingt mir nicht mit normaler Sprache, der Sprache dieser Kolumne und der WELT, der Umgangssprache der Menschen in Einkaufsstraßen und im Urlaub, der Sprache, die immer präzise eingesetzt werden muss, aber selten perfekt ist, nun, es gelingt mir nicht, mit alltäglichen Worten zu beschreiben, was dieses Bild der Mutter mit ihren zwei Kindern über die menschliche Existenz und insbesondere über das Böse im Herzen der gazanischen jungen Männer aussagt, die in den Medien zu oft als „Militante“ bezeichnet werden. „Militant“ ist eine grobe Verzerrung dessen, was diese jungen Männer antreibt. „Ungeheuer“ ist besser.
Dieses Bild der Mutter, die die Hölle vor sich sieht, wurde mit der Kamera eines der Ungeheuer aufgenommen, die sie und ihre Kinder in einen Kerker in Gaza schleppten. In den Augen der Gazaner ist dieses Bild kein Bild der Scham, sondern eines des Stolzes. Sie sehen keine Mutter, die geboren hat, die ihre Babys gestillt und gewickelt und bei Schmerzen und Albträumen getröstet hat und auf Sicherheit, Gesundheit und Erfolg für sie hofft, wenn sie selbst alt ist – die Gazaner sahen an jenem Tag und an allen folgenden Tagen einen Feind, der gedemütigt und verstümmelt werden musste.
Klinge ich jetzt pathetisch? Vermutlich ja: Ich suche nach den großen Worten für die Bedeutung dieses Bildes von Shiri mit ihren rothaarigen Jungen. Und ich mache einen Unterschied – verurteilt mich! – zwischen der Familie Bibas und den Müttern und Kindern, die in Gaza starben, die die direkte Folge dessen sind, was die Söhne der Gazaner an jenem Tag angerichtet haben: Der Kosmos wurde verletzt und konnte nur durch Gewalt geheilt werden.
Diese gazanischen Söhne hatten eine Unterstadt gebaut, die ihresgleichen sucht. Wissentlich nutzten sie die Oberstädte Gazas, um die Unterstädte zu schützen: Das taten sie, indem sie oberirdisch ihre Familien als menschliche Schilde einsetzten. Damit wollten sie die Juden abschrecken: Wagten die Juden es, diesen Schild von zwei Millionen Gazanern zu durchbrechen und zivile Opfer zu riskieren? Die Juden wagten es. Die Juden konnten nicht weiterleben, als ob Shiri und ihre Kinder noch lebten. Das
“ WIE DIE MUTTER ZU TODE KAM, WILL ISRAEL NICHT PREISGEBEN. IN DIESEM LAND GILT PIETÄT GEGENÜBER DEN TOTEN
Neueste Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Palästinenser die ungeheuerlichen Morde vom 7. Oktober 2023 immer noch für „richtig“ hält. Dazu kann ich keinen Kommentar abgeben. Es gibt zwei Möglichkeiten: schweigen oder einen Bibelvers zitieren Bild von Shiri und den Jungen machte es den Juden unmöglich, diesen teuflischen Tag zu relativieren.
Shiri, Kfir und Ariel wurden Opfer des Bösen – das ist ein Wort, das den Weg zu einer Deutung dessen öffnet, was die Gazaner beherrscht. Hamas ist die Seele Gazas. Gaza drückt sich durch Hamas aus. Shiri, Kfir und Ariel waren in gazanischen Augen keine Menschen, sondern Nachkommen von Affen und Schweinen, wie Juden in heiligen islamischen Texten genannt werden. Während die jüdischen Armeen alles taten, um die Zivilbevölkerung Gazas zu schonen, ermordeten die Söhne Gazas diese Mutter und ihre Kinder. Die zivilen Opfer in Gaza waren die direkte Folge der Strategie von Hamas, die Milliarden Euro und unzählige Arbeitsstunden in ein Tunnelnetz investiert hatte, das noch immer nicht vollständig kartiert ist – vermutlich handelt es sich nicht um siebenhundert, sondern um tausend Kilometer Länge – und darauf abzielte, die eigene Bevölkerung zu opfern. Israel suchte keine zivilen Opfer, Gaza suchte sie mit Absicht.
Die Juden haben die Entführer und Mörder identifiziert. Die Juden können nicht ruhen, solange der Tod der Mutter und der Jungen nicht gerächt ist. Ich weiß es: In unserer säkularisierten Zeit ist ein Begriff wie „Rache“ fast tabu. Wir tun so, als könnte alles, was die menschliche Würde verstümmelt, durch richterliche Urteile wiederhergestellt werden. Aber für Juden, die mit ihrer Tora leben (von Christen das Alte Testament genannt), ist der Mord an der Familie Bibas für immer existenziell inakzeptabel. Die jüdischen Rituale drehen sich um „Erinnerung“: die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, an die Zerstörung der Tempel in Jerusalem, an die Wunder und an die Verurteilungen Gottes. Am Sederabend, dem Beginn des jüdischen Passahs, wird gesagt, dass Juden die Sklaverei und den Auszug aus Ägypten so erleben müssen, als würden sie selbst, Tausende Jahre später, diesen Weg noch einmal gehen.
Ich musste an die Familie Bibas denken, als ich das Video einer sudanesischen Mutter sah, die ihre Kinder vor denselben Ungeheuern schützen wollte, die Shiri und ihre Kinder abgeschlachtet haben; denselben Dschihadisten. Sie stehen um sie herum, aber wir sehen sie nicht, nur den Schatten ihrer Waffen. Auch bei der schwarzen Mutter fehlen die Worte, außer solchen, die biblisch klingen. Ich zitiere mich selbst. Vor einigen Tagen schrieb ich in einem Tweet: „Der Zorn der Armee Israels kam über die Barbaren, die die Mutter mit ihren rothaarigen Kindern ermordet haben. Wer wird den Mord an der schwarzen Mutter und ihren Kindern rächen? Ohne Rache ist der Kosmos wüst und leer. In diesen Fällen beginnt Ethik mit Strafe und Rache. Klinge ich zu biblisch? Andere Begriffe reichen nicht aus.“
Die Dschihadisten in Gaza, im Libanon, in Syrien, im Sudan, im Iran werden von der Überzeugung getrieben, dass sie den Willen ihres Gottes ausführen. Und in dieser Ausführung dürfen sie sich am Blutvergießen erfreuen, am Foltern von Juden und Ungläubigen, am Verstümmeln der Leichen, an Vergewaltigung, Diebstahl, Zerstörung, und sie erwarten Lob und Beifall von ihren Eltern. Letzte Woche las ich: „Rund 70 Prozent der befragten Palästinenser im besetzten Westjordanland und in Gaza lehnen die Entwaffnung der Hamas entschieden ab, selbst wenn das eine Rückkehr zu israelischen Angriffen bedeutet, laut einer Umfrage des Palestinian Centre for Policy and Survey Research (PCPSR) vom 22. bis 25. Oktober, die am Dienstag veröffentlicht wurde. (…) Nach Unterzeichnung des Waffenstillstands sagten 53 Prozent der Palästinenser, der 7. Oktober 2023 sei ‚richtig‘ gewesen. Die Unterstützung für die von Hamas geführte Operation war im besetzten Westjordanland deutlich höher, wo 59 Prozent der Befragten sie ‚richtig‘ nannten, im Vergleich zu 44 Prozent in Gaza.“
Dazu kann ich keinen Kommentar abgeben. Es gibt zwei Möglichkeiten: schweigen oder einen Bibelvers zitieren